Abgestufte IntegrationAbgestufte Integration" statt "Privilegierter Partnerschaft"?
Die Debatte über den künftigen Status der Türkei wird auch kurz vor dem Beginn der Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober unvermindert kontrovers geführt. Dabei spielt auch der mögliche Erfolg der CDU/CSU bei der Bundestagswahl eine Rolle, vertritt die Union doch das Modell einer 'Privilegierten Partnerschaft'. In die sachliche Diskussion der Langzeitperspektive bringt nun der Frankfurter Politikwissenschaftler Cemal Karakas einen interessanten neuen Vorschlag ein, den er hier erläutert.
Auslöser der neuesten Türkei-Debatte waren die überraschende Ankündigung der deutschen Bundesregierung, am 18. September 2005 Neuwahlen abhalten zu wollen; das Nein der Franzosen und Niederländer zum Europäischen Verfassungsvertrag; und die Weigerung Ankaras, Zypern völkerrechtlich anzuerkennen. Da die Diskussionen über Alternativen zu einer Vollmitgliedschaft in der EU und in der Türkei wieder an Bedeutung gewinnen, stellt sich mithin die Frage, wie zu verfahren ist, wenn
a) der Rat aus politischen Gründen die Beitrittsverhandlungen noch vor ihrem Beginn im Oktober 2005 verschiebt, weil es z.B. nationale Vorbehalte gibt oder die EU beschließt, erst die Diskussion und die Ratifikation des Verfassungsvertrages abzuschließen, bevor es zu einer Erweiterung mit der Türkei kommt;
b) die EU-Kommission die begonnenen Verhandlungen vorzeitig aussetzt, weil die Türkei der Umsetzung des Acquis Communautaire nicht nachkommt oder es gravierende Rückschritte in der Demokratisierung des Landes gibt;
c) die Türkei trotz des erfolgreichen Abschlusses der Beitrittsverhandlungen aufgrund von Referenden, negativen Ratifizierungsverfahren oder des Vetos eines Mitgliedstaates im Rat nicht beitreten kann, oder
d) die Türkei aus politischen und wirtschaftlichen Gründen von sich aus auf eine Vollmitgliedschaft verzichtet und eine andere Integrationsalternative bevorzugt.
Für den Fall, dass ein Beitritt nicht zustande kommt, muss laut Türkei-Beschluss des Rates vom 16./17. Dezember 2004 "sichergestellt werden, dass das betreffende Bewerberland durch eine möglichst starke Bindung vollständig in den europäischen Strukturen verankert wird."
Aufbauend auf dem Türkei-Beschluss des Rates könnte das Modell der Abgestuften Integration zu gegebener Zeit eine mögliche Anbindungsoption jenseits der vor allem in Deutschland, Frankreich und Österreich diskutierten Privilegierten Partnerschaft sowie der vom Osteuropa-Institut vorgeschlagenen Erweiterten Assoziierten Mitgliedschaft Konzept und Ziel der Abgestuften Integration Die Abgestufte Integration sieht eine schrittweise Heranführung der Türkei an die EU-Strukturen vor. Im Kern beinhaltet sie eine sektorale Teilintegration und ist zugleich ein dynamisches Modell, bei dem die Integration stufenweise fortschreiten könnte. Die jeweils erreichte Integrationsstufe kann aus verschiedenen Gründen für einen der Partner ausreichend sein, so dass er von einer weiteren Integration bzw. Vertiefung absehen möchte. Der Beginn der nächsten Integrationsstufe ist eng verknüpft mit der Umsetzung von angekündigten Reformen.
Im Gegensatz zur Privilegierten Partnerschaft und EAM bleibt die Perspektive der Vollmitgliedschaft erhalten, die allerdings erst nach Inkrafttreten der letzten Integrationsstufe erfolgen kann. Die EU sollte der Türkei die Perspektive der Vollmitgliedschaft nicht a priori verweigern, denn langfristig könnte sich das politische Klima in Europa, z.B. aufgrund demographischer, energiepolitischer oder sicherheitsbedingter Probleme, zugunsten der Türkei verbessern.
Die Hauptunterschiede der Abgestuften Integration zur Privilegierten Partnerschaft und der Erweiterten Assoziierten Mitgliedschaft liegen darin, dass die Türkei nicht nur primär wirtschaftlich, sondern auch politisch (teil-) integriert wird und für die integrierten Bereiche ein sektorales Mitentscheidungsrecht ohne Anrecht auf ein Veto im Rat bekommt. Mögliche Themenfelder für eine Abgestufte IntegrationIm Rahmen der ersten Integrationsstufe könnten auf EU-Seite die weitere Demokratisierung der Türkei, die Stärkung der dortigen rechtsstaatlichen Prinzipien, Fragen nach mehr Rechtssicherheit für europäische Unternehmen oder die Außen- und Sicherheitspolitik von Interesse sein. Auf türkischer Seite könnte vor allem der Wunsch nach einer Vertiefung der Zollunion zugunsten Ankaras bestehen, inklusive der Gewährung eines Mitentscheidungsrechts, sowie der Ausbau der bisherigen Kooperation im Bereich Bildung, Kultur und Forschung.
Interessant könnte für Ankara auch die Teilnahme an weiteren EU-Förderprogrammen sein, wie z.B. zur Förderung von Infrastrukturmaßnahmen oder der Umwelt. Die Abgestufte Integration bietet der EU hierbei einen komparativen Kostenvorteil gegenüber der Vollmitgliedschaft: Die Türkei würde zwar an zusätzlichen EU-Förderprogrammen teilnehmen, doch würden diese erheblich geringer ausfallen als die Kosten der Vollmitgliedschaft.
Für die weiteren Integrationsstufen könnten eine Vertiefung der vorangegangenen, z.B. der Ausbau der Zollunion in Richtung Gemeinsamer Markt, oder neue Themen, etwa die Implementierung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion oder die aktive Mitwirkung der Türkei an Einsätzen im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in Frage kommen. Mögliche Einwände gegen und Argumente für die Abgestuften Integration Seitens der Türkei könnte dagegen eingewandt werden, dass es womöglich nicht zu einer Vollmitgliedschaft kommt - für die EU würde sich dann aber die Frage nach der Glaubwürdigkeit ihres 40-jährigen Beitrittsversprechens gegenüber der Türkei stellen. Des Weiteren ersetzt die Abgestufte Integration nicht die Debatte um die institutionellen, kulturellen und geographischen Grenzen der EU oder darüber, ob die EU gewillt ist, ein mehrheitlich muslimisches Land in ihre Gemeinschaft aufzunehmen.
Die Vorteile der Abgestuften Integration lassen sich wie folgt zusammenfassen: die politische Integration der Türkei in europäische Strukturen, ohne die EU institutionell zu überdehnen; der zusätzliche Zeitgewinn, den sowohl die EU als auch die Türkei für weitere Reformen brauchen werden; der komparative Kostenvorteil für die EU gegenüber einer Vollmitgliedschaft.
Cemal Karakas wurde 1973 in der Türkei geboren und wuchs im hessischen Offenbach auf. Nach Studium der Politikwissenschaften, VWL und Germanistik in Frankfurt und Lyon promoviert er derzeit an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) zum Thema "Demokratieförderung und Islamisierung - Zielkonflikte in der Türkeipolitik der USA und Deutschlands". Seit 2001 ist der frühere Freie Mitarbeiter der Frankfurter Rundschau zudem als Referent im Europäischen Parlament in Brüssel tätig.
EU-Beitritt der Türkei: Pro und Contra
Gehört das Land zu Europas Wertegemeinschaft oder wird die Belastbarkeit der Union überschritten?
In einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sehen die Befürworter eine Herausforderung mit vielen Vorteilen. Die Gegner fürchten, dass Belastungsgrenzen überschritten werden.
ARGUMENTE DER BEFÜRWORTER:
+ Die Gemeinschaft der EU basiert auf Werten und nicht auf religiösen Überzeugungen. Als mehrheitlich islamisches Land hat die Türkei das Prinzip der Trennung von Staat und Religion längst verwirklicht. Ausschlaggebend sind die Kriterien des Kopenhagener EU-Gipfels von 2002.
+ Die Türkei kann die "wichtigste Brücke" zwischen Kontinentaleuropa und dem östlichen Mittelmeerraum werden. Eine demokratische Türkei hat "Signalwirkung" für die Akzeptanz westlicher Werte in anderen islamischen Ländern.
+ Die Beitrittsverhandlungen sind nicht nur Mittel zur dauerhaften Demokratisierung der Türkei, sie bieten auch den entscheidenden Hebel für eine Lösung des Zypern-Problems.
+ Geostrategisch ist das an Konfliktgebiete grenzende NATO-Land als Stabilisator wichtig. Mit der Türkei als Mitglied erhält die EU größere sicherheitspolitische Bedeutung. Der Schutz vor islamischem Terrorismus wird größer.
ARGUMENTE DER GEGNER:
+ Die Türkei gehört weder geographisch noch kulturell zu Europa. Die Grenzen der EU werden bis in die Unruhegebiete des Orients überdehnt. Die einerseits christlich-abendländisch und andererseits vom Islam geprägten Identitäten und Lebensformen passen nicht zueinander.
+ Nach der jüngsten Erweiterung hat sich die EU noch nicht konsolidiert, eine EU-Verfassung ist noch nicht in Sicht. Ein so großes und einflussreiches Land wie die Türkei erschwert Entscheidungen und verschiebt die Balance in den Gremien drastisch.
+ Trotz Wirtschaftsbooms ist die Türkei rückständiger als alle EU-Länder. Über ein Drittel der Menschen arbeitet in der Landwirtschaft. Die jährlichen EU-Hilfen für die Struktur- und Agrarpolitik würden in den zweistelligen Milliardenbereich gehen.
+ Eine Zuwanderungswelle von Arbeitsuchenden wird sich mit Übergangsfristen verzögern, aber nicht verhindern lassen. Sie führt zu Turbulenzen auf dem Arbeitsmarkt und erschwert die Integration.
+ Trotz aller Reformen gibt es noch große Defizite bei Justiz und Polizei, den Menschen- und Minderheitenrechten, der Meinungsfreiheit, Gleichstellung der Frau und Religionsausübung.
Kurier, Artikel vom 10.05.2006, 12:58 | apa, dpa | aho


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