EUROPA-DIGITAL.DE, Europa - (k)ein Thema im Wahlkampf?


Am 22. September wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. Obwohl europäische Politik für unser aller Leben immer mehr an Bedeutung gewinnt, bleibt das Thema Europa im Bundestagswahlkampf gänzlich ausgeblendet. Dabei fehlt es nicht an streitbaren Themen im Jahre des Verfassungskonvents.

Thema europäische Verfassung: Gut sechs Monaten ist es nun her, dass in Brüssel ein Verfassungskonvent seine Arbeit aufgenommen hat, dessen 105 Mitglieder keine geringere Frage zu beantworten haben, als wie Europas Zukunft auszusehen habe. Die ewig gleiche, immer wieder vertagte europäische Gretchenfrage steht somit auf der Agenda! Für eine kurze Zeit sah es sogar so aus, als könne sich die politische Nomenklatura Deutschlands für dies Gestaltungsaufgabe des 21. Jahrhunderts begeistern. Im November vergangenen Jahres erregte der SPD-Leitantrag Verantwortung für Europas Zukunft große öffentliche Aufmerksamkeit. Hierin forderte die Partei eine "weitere Stärkung der Rechte des Europaparlaments", dessen "Wahl des Präsidenten der EU-Kommission", den "Ausbau der Kommission zu einer starken europäischen Exekutive" sowie des Rates zu einer "europäischen Staatenkammer".

Zuvor hatte sich bereits Außenminister Joschka Fischer "Schumanns großer Idee einer Europäischen Föderation" angenommen, stellte dem verfassten Europa jedoch eine verstärkte Intergouvermentalisierung voran. Auch die christdemokratische Opposition ließ es nicht an deutlichen Worten mangeln: "Die EU darf kein Superstaat werden", lautete die markige Antwort des CSU-Leitantrags Reformen für Europas Zukunft aus München. Notwendig sei eine klare "Kompetenzabgrenzung", und auch Wolfgang Schäuble wurde (zusammen mit Reinhold Bocklet) nicht müde, dieses im Namen der CDU hervorzuheben. Doch dieses diskursive Strohfeuer scheint längst erloschen, und so muss man europapolitische Visionen im Bundestagswahlkampf leider vergeblich suchen.

Thema EU-Osterweiterung: Dabei pocht zur Zeit die noch nie erreichte Anzahl von 13 verschieden Ländern an die Eingangstüre der Europäischen Union und wartet auf raschen Einlass. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge sollen zehn von ihnen bereits bis zum Jahr 2004 europäisches Vollmitglied sein. Gerade rechtzeitig, um den frisch gebackenen EU-Bürger ihr erstes Kreuzchen bei einer Europawahl zu ermöglichen. Nur Bulgarien, Rumänien und die Türkei werden sich darauf noch ein wenig länger gedulden müssen. Offizieller Lesart zur Folge ist die EU seit dem Vertrag von Nizza "erweiterungsfit". Bedauerliche Fußnote: Besagtes Vertragswerk ist noch nicht gültig, und knapp 1,5 Millionen wahlberechtigter Iren könnten schon bald ein zweites Mal dafür sorgen, dass dem auch weiterhin so bleibt. Und dann?

Thema Europäische Agrar- und Strukturpolitik: Die Reform gerade dieser beiden Politikfelder ist unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Erweiterung der EU gen Osten. Bislang macht die europäische Agrar- und Strukturpolitik zusammen mehr als zwei Drittel des gesamten EU-Haushalts aus. Sollten ab 2004 die wirtschaftlich noch weitaus schwächeren Beitrittskandidaten die gleichen Subventionsleistungen wie die Altmitglieder erhalten, droht der Europäischen Union jedoch der finanzielle Kollaps. Kürzlich legte Agrarkommissar Franz Fischler für sein Ressort einen ersten Reformvorschlag vor, der nun jedoch zwischen die Mühlsteine europäischer Besitzstandswarer zu geraten droht.

Thema Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: Die Diskussion um eine militärische Intervention der US-amerikanischen Streitkräfte im Irak offenbart wieder einmal, auf welch tönernen Füßen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union steht. Insbesondere eine immer dringlicher werdende verteidigungspolitische Komponente scheint nach wie vor auf lange Zeit nicht in Sicht zu sein. Doch wie soll dann Europa seinen Platz innerhalb der internationalen Beziehungen auf Dauer einnehmen? Wie ein tragfähiges Verhältnis mit Russland, China und allen voran den USA aufrecht erhalten? Ist eine NATO ohne einen europäischen Pfeiler überhaupt überlebensfähig?


Thema Europas Wirtschaft: Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist sicherlich Thema Nummer Eins im Bundestagswahlkampf 2002. Die "wirtschaftspolitische Kompetenz" des Kandidaten gilt weithin als wahlentscheidend. Daher verwundert es um so mehr, dass in der politischen Auseinandersetzung die europäische Rolle auf diesem Gebiet gänzlich vernachlässigt wird. Dabei hat sich durch die Einführung einer gemeinsamen Währung der Druck weiter verstärkt, die wirtschafts- und finanzpolitische Integration innerhalb der Europäischen Union voranzutreiben. Auf der Agenda steht dabei insbesondere eine Harmonisierung der europäischen Steuerpolitiken.

Thema Justiz und Inneres: Der 11. September vergangenen Jahres zeigte mit aller Deutlichkeit, dass Sicherheit an keinen Landesgrenzen Halt machen darf. Der Ruf wurde laut nach einem europaweit abgestimmten Vorgehen gegen den international agierenden Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität. Die Diskussion verdichtete sich insbesondere auf die Einführung eines Europäischen Haftbefehls, den letztlich die spanische Ratspräsidentschaft erfolgreich auf den Weg bringen konnte. Doch angesichts neuer internationaler Bedrohungsszenarien besteht hier nach wie vor weitergehender Handlungsbedarf!

Fazit: Diese Themenliste ließe sich noch beliebig erweitern, doch handelt es sich bei der hier vorgenommenen Auswahl sicher um die neuralgischsten Punkte der unmittelbaren Zukunft. Dass die Politik hierzu beharrlich schweigt, sollte nicht nur verwundern, es sollte vielmehr aufregen. Wenn regelmäßig auf europäischen Gipfeltreffen von "Bürgernähe" die Rede ist, sollten dem auch Taten folgen. Die Wahl zum deutschen Bundestag ist nach wie vor der bedeutendste Akt demokratischer Beteiligung der Bevölkerung. Europa hätte es somit verdient, fester Bestandteil dieser politischen Auseinandersetzung zu werden, und die Politik täte gut daran, dementsprechend zu handeln. Auch in ihrem eigenen Sinne!

Erstveröffentlichung am 16.9.2002


 

 

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