Hohes Haus! Meine Damen und Herren!
Ich finde diese Tafeln gut - sie bringen ein freundliches „Willkommen“ in allen neuen
Sprachen zum Ausdruck, und das ist eigentlich ein sehr sympathisches Zeichen des Hohen
Hauses an die neuen Mitglieder!
Meine Damen und Herren! Verehrte Botschafter! Verehrte Zuseher an den Fernsehschirmen!
Manche behaupten, Europa habe es verlernt, zu feiern, und manche sagen, dass Europa sich
eigentlich nicht anders verhält als eine etwas überdimensionierte Firma, die nur an
Zehntelprozent Gewinn und Verlust, an Nettozahler-Interessen und anderes denkt. Wer vor
vier Tagen, am Samstag vergangener Woche - und auch am Freitag vorher, am 30. April -
erlebt hat, wie die Menschen getanzt haben, sich gefreut haben - in den neuen
Mitgliedsländern, aber auch bei uns in den Grenzregionen -, der spürt, dass das nicht
stimmt.
Ich selbst hatte die Freude, am Freitag gemeinsam mit dem slowenischen Amtskollegen Toni
Rop auf dem Gipfel im Dreiländereck zu stehen, wo wenige Kilometer entfernt der Isonzo,
das Isonzo-Tal liegt, wo im Ersten Weltkrieg 1,5 Millionen Menschen gestorben sind - und es
ist eine besondere Freude, zu spüren, dass sich so etwas nie mehr wiederholen kann!
Es war am gleichen Abend in Preßburg/Bratislava, eine große Freude und es war spürbar,
dass die Menschen empfinden, dass die Slowaken zum ersten Mal in ihrer Geschichte frei
entscheiden können, demokratisch entschieden haben, dass sie diesem gemeinsamen
Europa angehören wollten, dass sie nicht mehr fremdbestimmt sind von Budapest oder von
Wien oder von Prag - auch nicht, bitte, von Brüssel. Das ist eine große Freude und viel
wichtiger als so manches Thema, das in diesen Tagen so besonders hochgespielt wird.
Oder: Als ich mit Péter Medgyessy, dem ungarischen Ministerpräsidenten, in Sopronpuszta,
in der Nähe von Ödenburg, noch einmal symbolisch den Stacheldraht durchschnitten habe,
dann war das sicherlich eine Geste, aber es war auch viel mehr: Es war wirklich die
Heimkehr in Europa, es war die Wiedervereinigung Europas spürbar!
Und ich sage ganz offen: Darüber sollten wir an einem Tag wie heute ein wenig reflektieren
und vielleicht die innenpolitischen Diskussionen ein bisschen zurückstellen.
Vor zehn Jahren hat Peter Sloterdijk, ein großer europäischer Philosoph, der ja teilweise in
Österreich lebt, ein Bändchen geschrieben - ich habe es mitgenommen -, welches absolut
lesenswert ist. Für diejenigen, die es interessiert, es heißt: „Falls Europa erwacht“ und ist im
Suhrkamp-Verlag erschienen. Lesens- und nachdenkenswert ist, was Sloterdijk damals
visionär vorausgesagt hat: Europa sei eine Weltgegend, in der auf eigentümliche Weise nach
der Wahrheit und nach der Güte des Lebens gefragt werden muss. Die Europäer müssten
sich als Rebellen gegen die Misere empfinden. Und sobald Europa wieder erwacht - so auch
der Titel des Buches -, müssten die Wahrheitsfragen wieder in die große Politik zurück.
Europas tiefster Gedanke: dass man der Verachtung widerstehen muss.
Das sind auch jene Fragen, die uns alle berühren: Friede, Freiheit, soziale Gerechtigkeit,
wirtschaftliche Leistung. Und ein solches Europa - und ich sage sogar, nur ein solches
Europa - hat Gewicht als Global Player, wird eine Friedensmacht sein, wird ein einheitlicher,
funktionierender Wirtschaftsraum sein und eine soziale und politische Einheit!
Und jetzt reibt sich dieser große Essay, den ich für wichtig und für bewegend halte, was
vielleicht manche mit mir teilen, mit jenen Themen, die wir heute schon besprochen haben.
Eine junge Journalisten hat kürzlich unter dem Titel „Provinz“ geschrieben: Es sei provinziell,
die kleinen Fragen aufzuzeigen. - Ich glaube das überhaupt nicht!